Experimental Bio Materials

  Prototyp eines Mauersteins aus Pilzmyzel auf Holzspanbasis Urheberrecht: © Tragkonstruktionen  

Vor dem Hintergrund eines gesteigerten Umweltbewusstseins der Bevölkerung entwickelt sich die Nachfrage nach umweltgerechten und nachhaltig produzierten Produkten zu einem wichtigen Einflussfaktor in der Gestaltung und Entwicklung von Investitions- und Konsumgütern. Dieses Umdenken ist insbesondere in der Bauindustrie mit ihren massiven Umwelteinflüssen in Form von Energie- und Ressourcenverbrauch von größter Relevanz. Der Bausektor ist einer der größten Konsumenten von Rohmaterial – ca. 30-50% des Gesamtmaterialverbrauchs in Europa, zwischen 1.200 und 1.800 Millionen Tonnen jährlich, werden für die Errichtung von Neubauten und die Sanierung von bestandsbauten aufgewendet. 5-10% des Gesamtenergieverbrauchs der EU-Staaten entfallen auf die Produktion von Baumaterial.

Aus diesem Grund stellt die Substitution von konventionellen Baumaterialien wie Stahl oder Beton durch nachwachsende, bio-basierte Alternativen einen vielversprechenden Ansatz dar, um den Ressourcen- und Energieverbrauch des Bausektors zu reduzieren und gleichzeitig die Rezyklierfähigkeit von Baumaterial zu erhöhen.

 

Wachstum und Konstruktion in der Natur als Prozess und Vorbild für innovative technische Lösungen

Seit jeher bezog der Mensch aus der Vielfalt von Lebewesen und Formationen der Natur seine Inspirationen zur Erweiterung seiner Welt von Artefakten und Produkten. Dabei finden natürliche Vorbilder auf verschiedene Art und Weise Niederschlag in der menschlichen Welt: Die Natur wird imitiert (Mimesis), d.h. die Art und Weise wie die Natur Lebewesen gestaltet und ‚konstruiert‘ dient als Vorbild für Artefakte und Produkte, mit denen sich der Mensch die Welt und sein Leben vielseitiger und angenehmer gestaltet. Natürliche Ordnungs- und Gliederungssysteme (Basis), auf deren Grundlage sich natürliche Strukturen formieren und aufbauen, werden auf artifizielle Systeme übertragen. Darüber hinaus interessiert sich der Mensch für die Prozesse, mit denen Dinge in der Natur umgewandelt werden oder wie natürliche Strukturen und Systeme gebildet oder hervorgebracht werden (Genesis).

Wenn die Natur bisher als Vorbild diente, um Beispiele für technische Lösungsansätze für mensch-gemachte Konstruktionen und Prozesse zu finden, so wissen wir heute auch, dass natürliche Konstruktionen und natürliche Prozesse in einem hohen Maß effizient sind hinsichtlich Materialeinsatz und Funktion.

 

Wikingerschiffe, Stabkirchen und geleitete Linden

Rekonstruktion eines Wikingerschiffes (Skuldelev-Schiff) mit gekrümmten ‚Knes‘ zur Befestigung der Traversen Urheberrecht: © Graefe Rekonstruktion eines Wikingerschiffes (Skuldelev-Schiff) mit gekrümmten ‚Knes‘ zur Befestigung der Traversen

Die Wikinger haben zum Bau ihrer Schiffe gekrümmte Hölzer als Eckaussteifung, das so genannte ‚Kne‘ (deutsch: Knie) benutzt, die entweder aus gekrümmten Wurzelhölzern oder – der Über-lieferung nach - aus geleiteten, d.h. in gekrümmte Form gebrachten, Latschenkiefernhölzern hergestellt wurden. Ähnlich gekrümmte Bauelemente wurden auch zur Aussteifung und Bogen-bildung bei den hölzernen Stabkirchen eingesetzt. Im deutschsprachigen Raum, besonders in Thüringen und Franken, war es im Mittelalter üblich, Lindenbäume, welche in der Ortsmitte als Symbol für einen Treffpunkt oder als Gerichtsplatz (Thingplatz) gepflanzt wurden, mit Hilfe von Stützen und Gerüsten, so zu leiten, dass das Astwerk des Baumes als verbreitertes Schirm- oder Schattendach oder als Geschosstragkonstruktion genutzt werden konnte. Zur Nutzung eines solchen ‚Baumgeschosses‘ einer solchen ‚geleiteten Linde‘ wurden Bretter und Treppen angebaut (Graefe, 2014).

 

Geleitete natürliche Konstruktionen und Bauteile aus geleiteten Naturprodukten

geleiteter Bambus

Im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojekt TEPHA (Technical Product Harvesting) an der RWTH Aachen untersuchen Biologen, Ökologen sowie Maschinenbauer und Architekten die Möglichkeiten zur technischen Nutzung von geleiteten Pflanzen und Pflanzenteilen, etwa zur Herstellung von Gehäusen, Bauelementen und Baukonstruktionen. Durch die Formgebung während des Wachstumsprozesses entstehen biobasierte Halbzeuge, die von den Mechanismen natürlicher Topologieoptimierung profitieren. Weitere Vorteile einer solchen natürlichen Produktion von Halbzeugen liegen in der klimaschonenden Erzeugung sowie der erhöhten Rezyklierbarkeit des Endprodukts. Hierzu werden Pflanzen wie Bambus (Phyllostachys) und Erle (Alnus), sowie verholzende Früchte wie der Kalebassenkürbis (Lagenaria siceraria) im Rahmen von experimentellen Wachstumsuntersuchungen mit Hilfe von Formen in definierte Geometrien gebracht. Im Anschluss an die Wachstumsperiode härtet der so geformte biomorphe Körper durch den Prozess der Lignifizierung (Verholzung) aus und kann als druckfestes und formstabiles Halbzeug in einen technisch verwertbaren Zustand überführt werden. Pilze stellen in diesem Zusammenhang einen weiteren Untersuchungsgegenstand mit großem Anwendungspotenzial dar, da sie, anders als Pflanzen, über eine extrazelluläre Matrix verfügen, die dreidimensional in alle Richtungen wachsen kann. Die Pilzmatrix kann so in jede beliebige äußere Form hineinwachsen und anschließend durch die Zugabe von Harzen oder anderen verfestigenden Flüssigkeiten stabilisiert werden.

 

Ausblick

Wachstumsmanipulation von Kallebassenkürbis Urheberrecht: © Tragkonstruktionen Wachstumsmanipulation von Kallebassenkürbis

Die mittelbare oder unmittelbare Nachbildung der Natur in Artefakten und technischen Produkten ist eine menschliche Vorgehensweise mit langer Tradition. Naturorientierte und naturinspirierte Artefakte und Konstruktionen zeichnen sich durch hohe Effizienz im Hinblick auf den geleisteten Materialeinsatz und den erzielten Funktionseffekt aus.

Im Zuge des Klimawandels hat die Verminderung des Ausstoßes von Kohlendioxyd eine so große Brisanz erlangt, dass auch die Auseinandersetzung mit natürlichen Geneseprozessen auf wissenschaftliche und systematische Art und Weise und deren potentielle Anwendung in der Technik von vorrangiger Bedeutung geworden ist. Neben der teilweise komplexen prozessualen Mimesis besteht eine direkte Möglichkeit darin, natürliche Wachstumsprozesse, insbesondere von Pflanzen, so zu beeinflussen bzw. zu leiten, dass dabei Rohlinge und Halbzeuge für Artefakte oder technische Objekte, oder ganze Baukonstruktionen entstehen. Hierzu muss das natürliche Wachstum unterschiedlichster geeigneter Nutzpflanzen gezielt analysiert werden, um die jeweiligen Wachstumszustände unter allen Einwirkungen prognostizieren zu können. Um diese Methodik auszubauen, muss das biomechanische Wissen erweitert werden und Simulationstechniken kombiniert werden. Ziel kann eine neue, nachhaltige und naturnahe Welt von Produkten und Artefakten sein, die energieineffiziente entstandene Produkte und Artefakte auf Dauer ersetzt.

 

Forschungsprojekte

Nachhaltiges Bausystem aus Pilzmyzel

Untersuchung der technischen Voraussetzungen für einen Einsatz von Pilzmyzel im Bauwesen.

Tree growth experiment

A study of the tree species Paulownia Artemis to determine the influences that affect the geometry and resistance in its growth.

Wachstumssimulation

 A study to simulate the process of plant self-formation and both growth thicknesses and rings, based on a computational model.

Strand Woven Bamboo Finger Joint

Hochfeste Keilzinkverbindungen für Strand Woven Bamboo der 5. Generation

Ansprechpartnerin

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Dana Saez

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Kevin Moreno Gata

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