Maurice Koechlin - der eigentliche Erfinder des Eiffelturms
Das Wahrzeichen von Paris - der Eiffelturm – ist zwar nach dem Projektanten Gustave Eiffel benannt, seine statisch-konstruktive Konzeption und Form geht aber auf den verantwortlichen Chefingenieur Maurice Koechlin zurück. Koechlin war ein vorzüglich auf dem damaligen Stand der Technik ausgebildeter Ingenieur von herausragender Genialität. Er brachte daher die besten Voraussetzungen mit, genau solche technisch innovativen Konzepte zu entwickeln, für die Eiffel und seine Firma berühmt waren.
Maurice Koechlin wurde am 8. März 1856 in Bühl (Elsass) als Spross einer rührigen, im Elsass und in der Schweiz ansässigen Bürger- und Industriellenfamilie geboren: Der Urgroßvater Jean Jacques (1789 – 1875) gründete in Mühlhausen eine Gießerei, aus der sich eine Maschinenfabrik entwickelte, in der seit 1839 Dampflokomotiven gebaut wurden. Der Vater Jean Frederique (1826 – 1914) besaß eine Spinnerei. Auf diese Weise lernte Maurice schon früh das Aufgabenspektrum der sich entwickelnden Industriegesellschaft kennen, aus dem er sich den Ingenieurberuf auswählte.
Nach dem Besuch des Lyzeums in Mühlhausen schreib sich Maurice an der Technischen Hochschule Zürich ein und studierte Zivilingenieurwesen. Er wurde Schüler von Karl Culmann (1821 – 81), durch den er als Ingenieur entscheidend geprägt werden sollte.
Karl Culmann
Culmann war der Begründer der Graphostatik, einer damals neuartigen Methode zur statischen Berechnung von Balken sowie von Stab- und Fachwerken. Sie basiert darauf, Kräfte als Vektoren zeichnerisch darzustellen und Schnittkräfte durch geometrische Kalküle zu berechnen. Gegenüber analytischer Verfahren, bei denen häufig komplizierte Integrale zu lösen sind, beruht die Graphostatik auf einfachen geometrischen Prinzipien. Werden diese konsequent angewandt, lassen sich auch komplexe Tragstrukturen berechnen.
Culmann vermittelte seinen Studenten die Anwendung der Graphostatik unter anderem anhand von Rechenbeispielen, die auf die Optimierung der Geometrie von Brückenträgern gerichtet waren. Die Theorien hierzu hatte er selbst als Schüler kennen gelernt. Ziel war es dabei, die Querschnitte der Brückenhauptträger unter allen Belastungen optimal auszunutzen – was auch eine wesentliche Eigenschaft der so genannte „Pauli-Träger“ war. Man bezeichnet diese Konstruktionen, mit denen teurer Stahl eingespart werden konnte, als „Träger gleichen Widerstandes“.
Büro Eiffel
Maurice Koechlin verließ die Technische Hochschule Zürich als Jahrgangsbester und begann 1877 als Ingenieur bei der Eisenbahngesellschaft „Chemin de Fer de l’Est“. Nach zwei Jahren wechselte er im Oktober 1879 zum Büro von Gustave Eiffel (1832 – 1923). Koechlin sollte den leitenden Ingenieur Théophile Seyrig (1843 – 1923) ersetzten, Eiffels Partner, der sich als ausgezeichneter und ideenreichen Ingenieur bewiesen hatte. Auf ihn ging der Entwurf der Stahlfachwerkbogenbrücke „Maria Pia“ über den Douro bei Porto (Portugal, 1875 – 77) zurück. Mit dieser Konstruktion (Bild 2) erlangte Eiffels Firma erstmals internationale Anerkennung, nicht nur wegen des außergewöhnlichen technischen Konzeptes eines 160 Meter weit gespannten Bogens, sonder auch wegen der wirtschaftlichen Überlegenheit: Die Kosten der Brücke lagen fast vierzig Prozent unter dem Angebot des nächstgünstigen Anbieters.
So dauerte es auch nicht lange, bis man an Eiffel herantrat, um eine ähnliche Brückenkonstruktion in Frankreich zu realisieren. In diesem Zusammenhang bat Seyrig darum, an der Vermarktung seiner Konstruktion finanziell adäquat beteiligt zu werden. Eiffel nahm dies jedoch zum Anlass, den Partnerschaftsvertrag vorzeitig zu kündigen und Seyrig zu entlassen.
Der Garabit-Viadukt
Bei der für Frankreich geplante Stahlbogenbrücke handelt es sich um den Garabit- Viadukt (1879 – 84). Er bildet ein wichtiges Bindeglied für die Trassen der französischen Staatsbahnen ein Richtung Süden und sollte die 120 Meter tiefe Schlucht der Truyère bei St. Flour in der südlichen Auvergne überwinden.
Durch einen Vorentwurf, den Staatsbeamte analog zur Douro-Brücke erstellt hatten, wurde die Direktbeauftragung der Firma Eiffel vorbereitet. Diese Vorplanung musste von Maurice Koechlin und Emile Nouguier, einem auf Montage und Bauorganisation spezialisierten Ingenieur im Haus Eiffel, grundlegend überarbeitet werden. Koechlin behielt dabei die Grundprinzipien der Douro-Brücke bei: den sichelförmigen Bogen, die fachwerkartigen Pfeiler und den kastenförmigen Fahrbahnträger in Fachwerkbauweise. Er passte die Konstruktion dem Stand der Technik an, indem er die gusseisernen Rohrquerschnitte der Stützen durch kastenförmige, genietet Rechteckquerschnitte aus Stahlblechen ersetze. Die Verschneidung des Fahrbahnträgers mit dem Bogen entfiel, stattdessen wurde der Träger durch entsprechende Stützen über den Bogenscheitel geführt, ohne ihn zu berühren. Dies vereinfachte die Konstruktion und verbesserte den Bauprozess hinsichtlich Effektivität und Geschwindigkeit. Zudem konnte so die Bogengeometrie frei gestaltet werden. Koechlin nutzte diese Eigenschaft für eine technische Besonderheit: Während die Form der Systemachse beim Douro-Viadukt einem Kreisbogen folgt, handelt es sich bei Garabit - Viadukt um eine parabelartige Kurve. Koechlin hatte diese Form und das Verhältnis von Scheitelhöhe zu Spannweite durch Lösung einer Optimierungsaufgabe gewonnen, in der er das Bogengewicht minimiert hatte.
Der Tardes Viadukt und die Freiheitsstatue
Zusammen mit Nouguier entwickelte Koechlin das Konzept und die Konstruktion des Viaduktes über die Trades (1881 – 84). Die über drei Felder spannende Stahlbalkenbrücke war eine der ersten, die im Freivorbau errichtet wurde. Diese Bauweise spiegelt sich in der Konstruktion als engmaschiger Gitterträger wider, denn im Gegensatz dazu waren die Balkenbrücken aus dem Hause Eiffel bisher als einfache Kreuzstrebenfachwerke konzipiert worden. Durch das Gitterwerk ist der Untergurt gleichmäßiger gestützt und kann die unterschiedliche lokale Beanspruchung durch das Verschieben des Trägers besser aufnehmen. Koechlin berechnete die verschiedenen Belastungszustände des Trägers und der Pfeiler über Einflusslinien. Der Triumpf dieses Projektes wurde allerdings getrübt, weil ein winterlicher Sturm die Brücke während des Baues zum Einsturz brachte.
Weniger spektakulär in technischer Hinsicht, aber umso schillernder vom Kontext her ist die Tragkonstruktion der Freiheitsstatue von Amerika (1881-86), die Koechlin entworfen und berechnet hatte. Die Skulptur war ein Geschenk Frankreichs an Amerika zur Erinnerung an die Erlangung der Unabhängigkeit. Sie war von Auguste Bartholdi, einem elsässischen Bildhauer, entworfen worden; Viollet-le-Duc zu Rate gezogen. Nach seinem frühen Tod 1879 trat Eiffel und seine Firma in das Projekt ein.
Analog zu den Pfeilerkonstruktionen der Brücke konzipierte Koechlin einen geraden Fachwerkmast an dem die Skulpturenteile über Hängestangen sowie Schräg- und Querstreben befestigt sind. Diese Unterkonstruktion wurde vor allem auf die Belastung durch Windkräfte ausgelegt. Die Hülle besteht aus gepunzten Kupferplatten, die Untereinander mittels Stäben und Nieten verbunden sind. Nach einem Probeaufbau in Paris im Jahre 1884 wurde die Freiheitsstatue vor dem Toren New Yorks, auf Bedloe‘s Island errichtet und 1886 enthüllt.
Der 300-Meter-Turm
Die Idee einer Weltausstellung in Paris zum hundertsten Jahrestag der Französischen Revolution 1889 fand in Frankreich eine breite Zustimmung. Man wollte in Zeiten der Niederlage und wirtschaftlichen Depression ein Zeichen des Selbstbewusstseins und des Aufschwungs setzte. Neben Vorschlägen zum Bau einer Kolossalstatue oder eines Monumentes wurde die Planung eines sehr hohen Turms erwogen, in Anlehnung an ähnliche Projekte in England und Amerika.
1881 entwickelte der französische Ingenieur Sébillot die Idee zum Bau eines „Tour de Soleil“ (Anmerkung des Autors: „Sonnenturm“), von dem aus mit Hilfe entsprechender Beleuchtungseinrichtungen das nächtliche Paris erleuchtet werden sollte. Nachdem die französische Regierung im Mai 1884 offiziell verkündet hatte, dass eine Weltausstellung für das Jahr 1889 geplant sei, entwarf Sébillot zusammen mit den Architekten Bourdais einen 300 Meter hohen Turm aus Granit mit riesigen Scheinwerfern in der Turmspitze. Obwohl das Projekt eine allgemeine Skepsis erweckte, wurde es bis zum ersten offiziellen Planungswettbewerb im Mai 1886 öffentlich diskutiert.
Im Frühjahr 1884 hatten auch Maurice Koechlin und Emile Nougier nachgedacht. Koechlin machte einen Entwurf zu einem – wie er es nannte – „Pylone de 300m de hauteur“, einen Mast von 300 Meter Höhe, der als Fachwerkkonstruktion mit einer ausgeprägten, sich nach oben verjüngenden Silhouette konzipiert war. Das völlig andere Entwurfsprinzip wird augenscheinlich, wenn man Koechlins Skizze mit dem Entwurf von Sébillot und Bourdais vergleicht, der an eine überdimensionale, romantisierende Rekonstruktion des siebten Weltwunders erinnerte: des sagenhaften Leuchtturms auf der Insel Pharos.
Anders als im Brückenbau spielen bei der Konstruktion von Türmen die quer zur Achse wirkenden Lasten – also der Wind – die entscheidende Rolle. Hierin lag für Koechlin wieder der Ansatz zu einer Optimierungsaufgabe, die auf eine hinsichtlich der angesetzten Windlasen ideale Turmform zielte. Der Verlauf der Turmstützen entspricht der „Stützlinie“, also einer fiktiven Linie, in der die Lastabtragung der angesetzten Querkräfte und der Längskräfte zusammenfallen. Sie ähnelt der Momentenlinie eines vertikalen Kragarms unter einer gegebenen Windbelastung. Im Jargon der Lehrer Culmann oder von Pauli hätte man von einem „Kragträger gleichen Widerstands“ gesprochen. Koechlin ermittelte die Geometrie des Weltausstellungsturmes unter verfeinerten Bedingungen und mithilfe von graphostatischen Methoden.
Als Koechlin und Nouguier die Skizze des Pylons von 300 Metern Höhe Eiffel unterbreiteten, begegnete dieser dem Vorschlag zunächst mit Skepsis, gestattete ihnen dann aber doch, weiter daran zu arbeiten. Offenbar hatte er eine Idee, wie er das ungewöhnliche Konzept dem Ausstellungskomitee verkaufen könne. Er beauftrage den Architekten Sauvestre damit, den Entwurf Koechlins zu überarbeiten. Dieser veränderte die Aufteilung der Geschossplattformen und applizierte kreisbogenförmige Strukturen an der Turmbasis. Mit diesem, dem Ausstellungskommissariat vorgestellten Vorentwurf eignete sich Eiffel schließlich das ganze Konzept an. So präsentierte er den Turm nicht mehr nur als reines Ausstellungsbauwerk, sondern pries ihn als wichtiges Hilfsmittel für wissenschaftliche Forschungen auf Gebieten wie der Meteorologie, der Astronomie oder der Aerodynamik an. Koechlins initialer Partner hinsichtlich des Entwurfes und der Konstruktion des Turmes wunde nicht weiter erwähnt und sein Name unter die Namen der anderen Beteiligten eingereiht. Die außergewöhnliche Konstruktion und Form des Turmes war aber auch Zielpunkt der Kritiker. Um den engagierten Projektanten zu brüskieren, verpassten sie dem missliebigen Objekt den Namen „Eiffelturm“. Dies führte umso mehr dazu, dass Turm und Name miteinander verknüpft wurden. Als mit der Zeit die Kritik einer allgemeinen Bewunderung gewichen war und der Turm rechtzeitig zur Ausstellung fertig gestellt wurde, erlange Eiffel mehr und mehr das Image eines genialen Ingenieurs – letztendlich auf Kosten seiner Mitarbeiter. Zwar bezeugt sein unternehmerischer Erfolg, dass er ein äußerst geschickter und gewandter Geschäftsmann war, mit feinem Gespür für das technisch Machbare. Sein Verhalten legt jedoch nahe, dass er seine nicht ebenso herausragende Begabung als Ingenieur durch gezielte Vereinnahmung fremder Ideen auszugleichen suchte.
Koechlin und Eiffel
Es war sicherlich nicht schwer, sich von Eiffels extrovertiertem Charakter zu unterscheiden, die charakterliche Diskrepanz von Koechlin und Eiffel hätten aber fast nicht größer seien können. Während Eiffel ein Leben geradezu mit der Öffentlichkeit führte, bevorzugte Koechlin die Zurückgezogenheit und war bedacht darauf, öffentliche Auftritte möglichst zu vermeiden. Wenngleich er mehrere wissenschaftliche Publikationen und ein Buch über die Anwendung der graphischen Statik verfasst hatte, so mochte er nicht gerne über seine Arbeiten sprechen. Dieses ausgeprägte Understatement half ihm sicherlich, es hinzunehmen, dass sein Name im Zusammenhang mit dem Bau, des 300-Meter-Turmes zwar vereinbarungsmäßig genannt wurde, seine tatsächlichen Verdienste aber keine adäquate Würdigung erhielten.
Koechlin war sich andererseits bewusst, dass ohne Eiffels persönliches und unternehmerisches Engagement, Aufträge von der Qualität eines 300-Meter-Turmes unerreichbar gewesen wären. Diese besondere Einstellung der beiden so unterschiedlichen Charaktere muss eine wichtige Voraussetzung dafür gewesen sein, dass ihre Zusammenarbeit bis zum Tod Eiffels 1923 nicht nur gut funktionierte, sondern auch von einem hohen gegenseitigen Respekt getragen war.
Erst im Zusammenhang mit der Fünfzigjahrfeier des Eiffelturms besann die Öffentlichkeit sich auf den Ursprungsentwurf zurück und schenkte Koechlin größere Aufmerksamkeit. Koechlin soll zu jener Zeit das einzige Mal eine persönliche Stellungnahme bezüglich des 300-Meter-Turm-Projektes in Zusammenarbeit mit Eiffel abgegeben haben, indem er sagt: „Le père de la Tour c’est Eiffel – mais l’idée et les calculs, c’est moi.“ (Anmerkung des Autors: „Der Vater des Turmes ist Eiffel, aber die Idee und die Berechnungen stammen von mir“).
Von 1893 an, als Eiffel sich zurückgezogen hatte, bis 1940 übernahm Maurice Koechlin die Leitung der Firma. Seine letzten Jahre verbrachte Koechlin in seinem Haus in Veytaux (Schweiz), wo er 1946 im Alter von neunzig Jahren starb.
Obwohl es paradox klingt: Der Eiffeltum wie er uns allen bekannt ist, wäre allein mit Gustave Eiffel, ohne Maurice Koechlin nie entstanden. Die nach technischen Gesichtspunkten entwickelte Form stellte die damalige Konkurrenzentwürfe in den Schatten und fasziniert uns bis heute. Sie bildet die Wirkung von Kräften ab, ähnlich den Stahlbrückenkonstruktionen des 19. Jahrhunderts, den Gewölben von Antonio Gaudì oder den seit den sechziger Jahren entstandenen Zelt- und Seilkonstruktionen von Frei Otto. Koechlin reiht sich demnach in die Gruppe der führenden Baumeister der Neuzeit ein. Zwar verhalf er mit der Konstruktion des 300-Meter-Turms für die Weltausstellung in Paris in erster Linie dem Namen von Eiffel zu weltweitem Renommee. Es bleibt jedoch sein persönliches und unumstrittenes Verdienst, mit seinem Konzept die Ingenieurarchitektur um einen Markstein bereichert zu haben.
Der Autor bedankt sich ganz herzlich bei Mme. Madeleine Fabre-Koechlin und Mme. Susan Koechlin für die große Hilfsbereitschaft und Unterstützung bei der Beschaffung von Text- und Bildmaterialien aus den Archiven der Familie Koechlin.